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If you're in Brazil, do it tomorrow

Als wir in Fortaleza ankamen, war es Freitagabend. Das heißt, daß sich kein Rad vor Montag dreht, schließlich handelt es sich zwar um eine Millionenstadt, aber eben in Südamerika. Vom Traineestandpunkt hat das aber einen entscheidenden Vorteil: Man hat doch noch Zeit, sich die Gegend anzusehen. Das ist nämlich keinesfalls selbstverständlich. Schließlich gibt es Hafenarbeiten und die gehen alle an. Zu allererst fallen darunter die Ankerwachen. Als uns der Erste Maat erklärte, wie diese auszusehen haben, dachte ich glatt, ich wär im falschen Film:

  1. Wir machen nicht fest, sondern ankern im Hafen, die Gegend ist im wahrsten Sinne des Wortes zu kriminell.
  2. Zwei Leute gehen immer Ankerwache und beide haben ständig draußen zu bleiben, eine Trillerpfeife um den Hals zu tragen und auf das geringste Geräusch zu lauschen.
  3. Falls jemand versucht an Bord zu klettern, sofort trillerpfeifen. Falls das nicht hilft, Belegnagel greifen und hemmungslos zuschlagen...

Weiterhin: keine Fotoapparate an Land mitnehmen, alles festhalten, ständig auf Draht sein und so weiter. Gottseidank wurde aber nichts so heiß gegessen, nicht mal die Trillerpfeifen wurden uns ausgehändigt. Vielmehr war es die vornehmste Aufgabe der Ankerwachen am Tage, die Landausflügler mit dem Schlauchboot in den Hafen und wieder an Bord zu transportieren.

Fortaleza ist die Hauptstadt der Provinz Ceara und hat eine Skyline wie Hongkong. Wenn man aber näher hinsieht, dann macht mancher Wolkenkratzer schon den Eindruck einer Bauruine. Wie es scheint, handelt es sich um eine im Aufschwung befindliche Urlaubergegend, deren Aufstiegstempo nur eben überschätzt wurde. Und wenn man durch die Straßen schlendert oder Bus fährt, wird man speziell in den normalen Wohnvierteln genauso deprimiert wie in den anderen brasilianischen Städten, die ich noch sehen sollte: Es war einmal unglaublich viel Geld vorhanden, die Zeiten sind aber ewig her und seitdem ist das Land am Abbröckeln. In größeren Supermärkten bekommt Sauerkraut, aber die Preise sind wie bei uns - die Löhne sind es nicht. Wir alle hatten einen Tag Decksarbeiten und einen Tag frei, der darauffolgende Montag war nicht weiter eingeteilt. Da gab es auch für uns nichts entscheidendes mehr zu tun, man hätte also wieder in die Stadt gehen können. Aber keiner tat es - die Welt an Bord unseres kleinen Traumschiffes war einfach weniger bedrückend.

Messing...Außerdem wußten wir auch nicht so genau, ob und wann Tiger und John den Kampf mit den Behörden gewinnen würden - unmittelbar nach dem Tanken und dem Einkauf von ein paar Ersatzteilen für den Diesel wollten wir schnellstmöglich verschwinden. Aber wie sich zeigte, ist in Brasilien alles ein bißchen umständlicher, bürokratischer, würdevoller und vor allem zeitraubender. Berge von Formularen mußten ausgefüllt werden, die niemand verstand. Dann wurde uns mitgeteilt, daß wir hier nur Diesel in Einheiten ab 50 t bekommen könnten - wir brauchten 8 Tonnen... Daraufhin wandte sich Tiger, der Skipper, direkt an die Ölgesellschaft. Allerdings wurde er nicht bis ins Foyer gelassen, denn eine Bekleidung, die im vornehmen Bermuda als korrekt gilt, ist es hier noch lange nicht. Hier, fast genau unter dem Äquator, trägt man lange Hosen, wenn man ein paar tausend Dollar loswerden will. Und da es bereits Abend war, verschob die Umkleidungszeremonie unsere Abfahrt auf Dienstag. Am Dienstagabend stand dann nach erneuten endlosen Verhandlungen, Bücklingen und dem Vorschieben hübscher Mädchen endlich ein Tankwagen am Kai, der nur eben keinen passenden Einfüllschlauch dabei hatte...

Irgendwie bekamen wir doch noch unser Diesel in die Tanks und flüchteten schon bei Mondschein ohne die dringend benötigten Kugellager, die es in Brasilien nicht gibt und die deshalb extra per Luftfracht aus England organisiert werden mußten. Es gab Momente, in denen wir Trainees an Deck saßen und uns den Tampen aussuchten, an dem wir uns an Tigers Stelle aufhängen würden. Daß er noch lebt, ist womöglich wirklich nur pathologischem Optimismus zu danken.

Jedenfalls verließen wir Fortaleza, wie wir gekommen waren - abends im Lichterschein. So richtig ließ uns das Land aber fortan nicht mehr los. Schließlich mußten wir gegen den Wind um die "Ecke" von Südamerika und konnten sowieso nicht weit weg, weil unsere neuen Kugellager nach Recife geschickt werden sollten, der nächsten besseren Stadt mit Flughafen.

So motorten und segelten wir über größere Strecken unter Landsicht, was einmal mitten in der Nacht auch eine ziemlich hektische 90°-Wende erforderte - wir hatten plötzlich Land gerochen und wollten nicht so gern auflaufen. Allerdings kann man unter diesen Umständen auch mehr Tiere beobachten: Delphine und stoßtauchende Tölpel begleiteten uns jetzt öfter. Außerdem fand sich mehr Zeit, um verschiedene sogenannte "Nachmittagsgespräche" durchzuführen. Für alle, die es interessierte (und das waren alle), erzählte Tiger über die Geschichte der Segelschiffahrt, die näheren Umstände des Papierkrieges, den die Häfen mit wehrlosen Schiffen veranstalten, über Halsen und Wenden und das, was sonst noch interessierte. Vorher hatte es Kurse in Navigation gegeben - angesichts meiner sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten habe ich das aber gar nicht erst versucht zu verstehen.

Vor Recife angekommen, setzten wir unseren Landetrupp ab und warteten dann vor dem Hafen - im wahrsten Sinne des Wortes auf und ab tigernd. Nach 8 Stunden dann die erlösende Botschaft: Wir haben die Ersatzteile! Als dann alle wieder an Bord waren, wagte ich anzufragen, was denn so viel Zeit gekostet habe, warum es so lange gedauert hätte. Mich traf einer der erstauntesten Blicke seit Jahren und eine Antwort, die nur aus einem Wort bestand: Südamerika... Jedenfalls hatten wir unsere Kugellager und konnten uns beruhigt weiter auf den Weg machen. Nur daß dank des Wetters und der vielen ungeplanten Aufenthalte Rio mittlerweile ziemlich aus der Welt lag. Und überhaupt hörten wir von überall dasselbe: Rio ist die Hölle. Es gäbe keinen schlimmeren Ort für Schiffe unserer Größe als diesen Hafen. Fortaleza wäre dagegen das Paradies. Dabei waren uns die paradiesischen Zustände dort glatt entgangen. Dies alles zusammen bewegte Tiger dazu, Rio aus dem Plan zu streichen und die alte Hauptstadt Brasiliens anzulaufen - Salvador. Dort sollten wir drei Figuren, die wir nach Hause mußten, abgesetzt werden und dann ohne uns ab nach Kapstadt.

Wieder hatte ich zuerst einen Tag mit Messingputzen, Wäsche waschen und Segelanschlagen, bevor es am Sonntag Auslauf in die Stadt gab - allerdings nicht ohne Gelbfieberimpfung auf Kosten der Provinz Bahia. Der Sonntag ist hier ladenöffnungstechnisch weniger ein Problem als die Siesta, während der man nicht mal eine Kirche besichtigen kann. Es blieb daher gar nichts weiter übrig, als die Mitbringsel zu kaufen, für die bisher nicht mal Gelegenheit war, und sich dann aufs Schiff zurückzubegeben. Schon deshalb, weil man diesmal an feste Zeiten gebunden war - das Schiff lag vom Hafen aus abseits auf Reede. Ich glaube nicht, daß ich mich damit als Kulturbanause geoutet habe. Der historische Kern Salvadors ist klein und im Zerfall begriffen. Dabei war dies mal die größte Stadt der Südhalbkugel, die die Steine für eine Kirchenfassade aus lauter Jux und Tollerei aus Europa importieren konnte - Geld spielte keine Rolle. Heute betteln die Kinder auf der Straße. Salvador liegt an der Bucht de todos Santos - der Bucht aller Heiligen. Man sagt, es wäre auch die Bucht fast aller Sünden. Für drei von uns endete die Reise also hier. Wir verließen das Schiff, fuhren zum Flughafen und warteten dort auf unser Flugzeug. Die Monitore funktionierten nicht, keiner verstand Englisch und/oder konnte uns den Flugsteig mitteilen und überhaupt hatte die Maschine eine Stunde Verspätung, ohne daß das jemanden außer uns interessierte. Aber auch wir sahen das Ganze mittlerweile ziemlich brasilianisch. Und schließlich hatten wir ja noch einen Aufenthalt in Rio, wo wir umsteigen mußten. So verhinderte Stewart, Wachkamerad und ebenfalls Früh-Heimkehrer, meine sonst tägliche Tagebuchaufzeichnung mit der Abwandlung eines viel zitierten Sprichwortes: If you're in Rome, do as the Romans do - if you're in Brazil, do it tomorrow.


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