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Erste Hilfe für Interessenten

Sofern ich Sie nun neugierig gemacht haben sollte und Sie Lust auf "Holiday on Eye" verspüren, sollte man ein paar Tips vielleicht nicht unterschlagen.

Coolness ist an Bord nicht angesagt, im Vorfeld aber sehr wohl. Vergessen Sie Ihren "German way of Life", es nützt eh' nix. Beweisen Sie Nerven und warten Sie mit Flugbuchungen bis zum letzten Drücker. Schwungvolle Törnplanänderungen werden als normal angesehen und stehen wohl auch in direktem Zusammenhang mit den sonst ausgesprochen freundlichen Preisen. So war der Törn ursprünglich ausgeschrieben als "Bermuda - England", was sich dann änderte in "Boston - Irland", dann 3 Wochen vorverlegt und wieder in "Bermuda - Irland" geändert wurde. Dies aber bereits mit dem Hinweis, daß der gesamte Törn kostenlos wäre. 3 Tage vorher hieß es, daß es möglicherweise auch nach Italien gehe, wonach mir dann in Bermuda mitgeteilt wurde, daß sich die Pläne der charternden Filmgesellschaft wieder geändert hätten und ich 6 oder mehr Wochen (bis Rio oder Kapstadt) an Bord bleiben oder auch die Sache ganz lassen könne. In jedem Fall würden Törn und Heimflug von Hollywood gezahlt. Mir konnte das mittlerweile nur recht sein - so preiswert segelt man nie wieder so weit.

Regenzeug können Sie zu Hause lassen, das gibt es an Bord, wenn Sie aber eine Frostbeule wie ich sind, nehmen Sie Gummistiefel mit. Und sollten Sie noch Platz in Ihrer Tasche haben, stecken Sie das Statistische Jahrbuch ein - es lohnt sich. Wenn man nämlich glaubt, allein die Tagesschau sichere einem den Platz in der Elite der Bestinformierten, so ist das ein Irrtum. Es ist nicht zu fassen, was einem auf diesem Schiff für Löcher in den Bauch gefragt werden können - über Dinge, die man wissen sollte, aber längst wieder vergessen hat und Dinge, an die man selbst bis dahin nicht mal im Traum gedacht hat. Wie der letzte Winter in Deutschland war, wohin die Ossis früher in den Urlaub gefahren seien, ob wir viel Fisch essen, wie es der deutschen Filmindustrie gehe, womit die Ex-Stasi-Spitzel jetzt ihr Geld verdienten, wer Alexander von Humboldt war, welche Kameramarke bevorzugt werde und wieviele Einwohner Berlin habe. Zuerst hielt ich das für reine Höflichkeitsfragen mir gegenüber, stellte dann aber zu meinem größten Erstaunen fest, daß die Antworten teilweise tatsächlich von Interesse sind und nicht gleich wieder vergessen werden. Ich halte mich normalerweise nicht für blöd, habe mich aber bei solchen Gelegenheiten in aller Regel blamiert bis auf die Knochen. Wappnen Sie sich mit Zahlen aller Art und Sie werden eine bessere Figur als ich machen!

Was Sie dafür zu Hause lassen können, ist die Urlaubsschwarte. Sofern Sie sich genug Englisch für den Urlaub zutrauen, so werden Sie auch in der Bordbibliothek fündig. Es gibt dort so ziemlich alles, was nur irgendwie von Interesse sein kann: über die Fische der Welt, die Vögel Australiens, Navigations- und Segelhandbücher, das "Große Buch der Kartenspiele", Comics, Weltliteratur und bessere Groschenromane sowie - kein Witz! - das Wörterbuch der australischen Sprache. Dazu kommen Gesellschaftsspiele und für Liebhaber die "Christian Radich" in 1000 Puzzleteilen. Wer es nicht ausdrücklich drauf anlegt, wird sich kaum langweilen müssen.

Wenn Sie einen Fotoapparat mitnehmen wollen, denken Sie daran, daß das Oberdeck fast in Meereshöhe liegt. Das Wetter muß nicht besonders schlecht sein, damit die See eimer- und badewannenweise überkommt. Und auch wenn Sie die Kamera davor bewahren können, so hat man doch oft ein ständiges Sprühen von Salzwasser in der Luft. Packen Sie also eine spritzwassergeschützte Kamera ein oder seien Sie nervenstark - ich habe den Totalausfall der Elektronik schon unter sanfteren Umständen erlebt.

Und zu guter Letzt noch eins, was man nicht vergessen sollte: Das Wort "Urlaub" ist hier durchaus relativ. Die Woche hat 56 Arbeitsstunden und das ist auch mir nach 3 Wochen doch auf den Keks gegangen. Man kann nie länger im Bett bleiben oder auch früher schlafen gehen - mehr als 7,5 Stunden am Stück sind schon technisch ein Unding. Aber als es anfing mich zu stören, kamen wir nach Fortaleza und da sah die Welt dann dank der Ankerwachen wieder anders aus. Sicher, die meiste Zeit der Wache verbringt man mit Rumsitzen und Maulaffenfeilhalten, unterschätzen sollte man speziell den Ausguck trotzdem nicht. Und dann werden jeden Sonntag die Wachen der Trainees nach hinten geschoben - die alte 4-8-Wache tritt erst wieder zu 8-12 an. Bis man sich daran gewöhnt hat, ist bald wieder Sonntag.

So viel zu dem, was ich zu schreiben hatte. Es sieht nicht aus, als hätte ich mich kurz gefaßt, es ist aber so. So viel hätte ich gern noch erwähnt, das aber jeden Rahmen sprengen würde. Ich liebe dieses Schiff und ich bete für den Tag, an dem ich seine Sprache verstehe. See you again in Rostock.

(1995)

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